Eine unergründliche Welt
Der Körper ist ein Gefäß, ein Innenraum, in dem vieles gesammelt und bewahrt wird. Erinnerungen, Sprachen, Bilder, Bedrohliches und Schönes, Tröstendes und Bedrückendes, Gedichte und Musik, vieles bewahrt der Körper. Oft bin ich mir dessen nicht bewusst. Manches taucht auf wie ein Fisch aus tiefem, dunklem Wasser. Manches beflügelt, manches belastet. Manches stärkt, manches schwächt und macht krank. Der Körper ist ein geheimnisvolles Gebilde, eine unergründliche Welt. Und er befindet sich in einer unergründlichen Welt. Denn er ist eingebettet in einen Außenraum, der ihn umgibt, in ihn eindringt, ihn trägt wie einen Vogel die Luft, ihn bedrängt und erblühen lässt. Mein Körper lebt in ständiger Wechselwirkung mit dem, was ihn umgibt. Er hat Anteil daran und ist doch mein Körper. Ich kann entscheiden, was ich in mich aufnehme. Und ich kann es doch nicht ganz entscheiden. Mein Körper erleidet vieles. Doch geht von meinem Körper auch eine heilende Kraft aus. Er formt die Umwelt, gestaltet sie, schafft in ihr einen Raum, der Entfaltung möglich macht und Wachstum. Das geschieht oft mit den Mitteln der Kunst. Ich denke an Gedichte, an die Gedichte von Anna Achmatowa oder Ossip Mandelstam, die in den Körpern von Lydia Tschukowskaja und Nadeschda Mandelstam aufbewahrt worden sind, die aus der Erinnerung weitergegeben wurden und so der Welt erhalten geblieben sind, einer Welt, die durch diese Gedichte anders geworden ist, ein Ort, wo neuem Leben Raum geschaffen wurde. Auch die Körper von Künstlerinnen bewahren Erinnerungen, bringen Neues zur Welt und schaffen in Kunstwerken Räume eines Neubeginns, einer Versöhnung mit Vergangenem. Selbst wenn sich die Bedrängnisse der Gegenwart nicht mit jenen Bedrängnissen vergleichen lassen, die zur Zeit des Stalinismus erfahren wurden, es sind doch Bedrängnisse, die erniedrigen können oder krank machen. Diesen Bedrängnissen wird in Kunstwerken etwas entgegengesetzt, etwas, das aus dem Wirken des Körpers kommt und durch sein Wirken den Raum derer, die dem Geschaffenen im eigenen Körper Raum geben, verwandelt. Ein toter Körper wiegt schwerer als ein lebender. Als würde das Leben tragen und dem Lastenden des Körpers Leichtigkeit verleihen. Ja, das Leben trägt. Es nimmt in Kunstwerken Gestalt an und verleiht dem Lastenden des Körpers Leichtigkeit. Es trägt, wie das Wasser einen Fisch zu tragen vermag. Denn der Körper ist ein Gefäß, ein Innenraum, den Kunstwerke, Dichtung, Musik mit Leben erfüllen. So tragen ihn die dunklen Wasser des Lebens wie einen großen, wunderbaren Fisch.
Gustav Schörghofer SJ